Stadionbaustelle, Essen

Zehn Jahre nach ihrer Veröffentlichung sind die „99 Orte, die Fußballfans gesehen haben müssen“ etwas eingestaubt. Das Fußballmuseum in Dortmund und das Museum des FC Bayern steckten bei der Veröffentlichung der Liste noch in der Planungsphase. Beide Orte tauchen in der Aufzählung vom Mai 2012 gar nicht auf. Andere Orte sind von der Landkarte verschwunden. Das wunderbare Elvan in Braunschweig servierte im Dezember 2017 den letzten „Adler-Franke-Teller“, und damit er niemals in Vergessenheit gerät, er bestand aus einem Schweinekotelett, einem Schweinenackensteak, Cevapcici, Gyros mit Reis, Pommes, Zwiebeln und Salat. Im Café King werden seit 2014 keine Spiele mehr verschoben und auf Juist finden keine mehr statt, weil dem Verein die Spieler fehlen.

In Essen war von Anfang an klar, dass die Stadionbaustelle keine Highlight für die Ewigkeit sein würde, als sie von der „11FREUNDE“ zur Sehenswürdigkeit geadelt wurde. An der Hafenstraße lag der Zauber in einer „Art Sechs-Tribünen-Stadion“, wie das Fußball-Kultur-Magazin damals aufklärte: „Von den drei (naja, zweidreiviertel) Seiten des alten Georg-Melches-Stadions geht der Blick hinüber zum Rohbau der ersten drei Tribünen des neuen Stadions, das sich leicht versetzt direkt an die alte Westkurve anschließt.“

Die Stadionbaustelle an der Hafenstraße gehört der Geschichte an

Im Juni 2013 war das Sechs-Tribünen-Stadion endgültig Geschichte, als die Abrissarbeiten der (alten) Haupttribüne beendet wurden. An das Georg-Melches-Stadion erinnert heute noch der südwestliche Flutlichtmast: „Flutlichtspiele an der Hafenstraße haben ihren ganz besonderen Reiz. Wenn der Spieltag an einem Freitagabend stattfindet, […], strömen gefühlt noch mal einige Tausend Fans mehr ins Stadion Essen, um diese einzigartige Atmosphäre aufzunehmen“, schrieb der Verein 2021 auf seiner Webseite. Auch Klaus-Hendrik Mester erinnert sich in seinem Buch Vom Stadion zur Arena: „Fußball und Scheinwerferlicht, das passte im Georg-Melches-Stadion“.

Die Flutlichtanlage in Essen war die erste im Westen (das erste Flutlichtspiel in Deutschland fand bereits 1926 in Hannover statt, auch wenn an vielen Stellen von Richard Hofmanns Abschiedsspiel 1949 in Dresden ausgegangen wird), daneben galt die in den Fünfzigern errichtete Südtribüne lange Zeit als Vorreiter in der deutschen Stadionlandschaft. Der Multifunktionsbau bot im Bauch der Tribüne Sitzungsräume, eine Sauna, eine Gaststätte, einen Pressebereich, vier Zimmer (in denen Trainer und Spieler wohnten) und sogar eine Mehrzweckhalle zum Anschwitzen. „Vereinsfunktionäre aus ganz Deutschland reisten in den Essener Norden, um sich das zukunftsweisende Bauwerk näher anzusehen“, berichtet das Buch Es war einmal ein Stadion.

Die Hafenstraße ist seit über einem Jahrhundert die Heimat von RWE

An der Hafenstraße spielte Essen bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg, damals hieß sie noch Phönixstraße. Passend zur Gründung von Rot-Weiss Essen im Jahr 1923 (aus Zusammenschlüssen mehrerer Vereine) „gab es erstmals so etwas wie Stadionatmosphäre“, wie Das große Buch der deutschen Fußballstadien schreibt, als die „Süd-, Ost- und Nordseite in den 1920er-Jahren“ erhöht wurde. Vom Sportplatz zum Stadion wurde der Platz aber erst im Jahr 1939, als das „Stadion Rot-Weiss“ 25 000 Stehplätze und eine Holztribüne für 1 428 Menschen bot, „notfalls [aber] auch 30 000 hineinpassten“ (Das große Buch der deutschen Fußballstadien), wie beim Einweihungsspiel kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs (13. August 1939, 1:5 gegen den FC Schalke 04). Im Krieg wurde das Stadion völlig zerstört, der Wiederaufbau ist eng verbunden mit dem Namen Georg Melches.

Die oben beschriebene Vorreiterrolle des Stadions mit der kleinen Gruga (einer „bundesweit einzigartigen Gartenanlage“), der Flutlichtanlage, dem Klubheim und dem Prestigeobjekt Südtribüne ging Hand in Hand mit der erfolgreichsten Zeit des Vereins (u. a. DFB-Pokalsieger 1953, Deutscher Meister 1955) und Legenden wie Helmut Rahn, Fritz Herkenarath oder „Penny“ Islacker. Georg Melches verhob sich beim Bau der Südtribüne allerdings dermaßen, dass sie auch für die darauffolgende sportliche Misere steht – obwohl der Tribünenausbau nur die kleine Lösung war und Melches‘ Idee von einem reinen Fußball-Großstadion nicht umgesetzt wurde. In den Sechziger- und Siebzigerjahren folgte ein Dasein als Fahrstuhlmannschaft, obwohl die Spieler (u. a, „Manni“ Burgsmüller, Frank Mill oder Horst Hrubesch) nicht minder namhaft waren.

Jungs, klettert jetzt nicht höher. Da oben sind Stromleitungen. Ihr kriegt einen elektrischen Schlag, da seid ihr lange tot.

Der RWE-Stadionsprecher im Jahr 1956, als Anhänger das Dach erklimmen wollten

Ende der Siebzigerjahre wurde das Stadion, das seit August 1964 den Namen des 1963 verstorbenen Georg Melches‘ trug, an die Stadt verkauft. Die errichtete 1979 eine neue Flutlichtanlage, danach tat sich bis in die Neunziger (aufgrund der Haushaltsprobleme der Stadt) reichlich wenig. Nachdem die vermoderte Westkurve abgerissen werden musste, wurde das Stadion zu einer „Dreiviertel-Arena“ (Es war einmal ein Stadion). Es schien, als bräuchte man für den sportlichen Fall des Klubs, der 2010 Insolvenz anmelden musste, ein gebautes Sinnbild.

Im Oktober desselben Jahres wurde der Neubau des Stadions beschlossen, mit dem im April 2011 begonnen wurde. Die Fertigstellung des letzten Tribünenteils erfolgte am 6. August 2013. Das neue Stadion fasst rund 20 000 Besucherinnen und Besucher und kann im Bedarfsfall auf 35 000 Plätze ausgebaut werden.

Wo ein neues, modernes Stadion, eine Arena, entstanden ist, ging eine alte Traditionsstätte verloren. Oder wie es die FAZ bereits 2012 wusste: „Hier stirbt ein Stück Ruhrgebiet“.

Anschrift: Stadionbaustelle (Stadion an der Hafenstraße) Hafenstraße 97A, 45356 Essen

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